Jungfrau Zeitung - Quartierklasse gegen das Diktat der Masse

2022-07-23 09:22:19 By : Emma MA

An einem Sommermorgen in den 80er-Jahren im Jura kommt ein Subaru von Courtelary gefahren. Unterwegs hält das Fahrzeug immer wieder an, der Fahrer steigt aus und verteilt hier ein Päckchen mit Würsten, dort ein Stück Bergkäse und bei einem anderen Halt eine Tasche mit Fleischstücken. «Wir verkauften damals alle Produkte der Métairie du Prince direkt an die Konsumenten», sagt Aram Melikjan, ehemaliger Bauer und Pionier in Sachen Weideproduktion. Auf 1200 Metern über Meer hielt er mit seiner Familie Kühe, Rinder und Schweine nach Tierhaltungsrichtlinien von KAGfreiland. Gekäst wurde auf dem Hof, und auch zum Metzgen mussten die Tiere nicht weit gefahren werden.

«Damals gab es ein gemeinnütziges Schlachthaus in Courtelary, fürs Schlachten war mein Nachbar zuständig», erinnert sich der Könizer aus Wabern. Dass er seine Tiere bis zum Lebensende begleitete und auch auf der Schlachtbank für sie sorgte, versteht sich von selbst. So konnte er sich vom Tierwohl bis zum letzten Atemzug überzeugen. In dieser Tradition führt Aram seit 27 Jahren das Matte-Lädeli, das 1981 als zweiter Bioladen in der Stadt Bern gegründet wurde. Auch hier gilt Qualität mehr als Masse, und so kann man guten Gewissens sagen, dass die Produkte bis heute von Hand verlesen werden – ohne Zwischenhandel. Sie werden vom Team des Matte-Lädelis wenn möglich direkt bei den Produzenten bestellt und bezogen.

Dass beim Schlachten auch heute aufs Tierwohl geschaut wird, davon ist Aram überzeugt, auch wenn er nicht mehr dabei ist. «Ich beziehe das Fleisch von drei Biometzgereien aus der Nähe, bei denen ich die Inhaber und viele Mitarbeitende persönlich kenne», erklärt der Inhaber des Matte-Lädeli. Er vertraut auf das Knospe-Zertifikat, denn es belegt, dass die Lieferanten nach strengen Richtlinien von externen Stellen kontrolliert werden. «Das hat natürlich seinen Preis», räumt der Detailhändler ein. «Das sollte Fleisch allerdings immer haben», hakt Vera Weber ein. Die Präsidentin der Fondation Franz Weber gibt zu bedenken, dass Fleisch eigentlich ein Luxusprodukt ist, aber nicht mehr so wahrgenommen wird. «Die Zeit ist vorbei, wo der Braten ausschliesslich am Sonntag auf den Tisch kam», beobachtet sie. Heute leistet man sich Fleischgerichte an jedem Tag und das teilweise am Morgen, am Mittag und am Abend.

Dass gerade diese Allzeit-Verfügbarkeit dazu führe, dass Fleisch nichts Besonderes mehr sei, das kann Aram bestätigen. «Auch bei anderen Dingen im Leben führt die massenhafte Verfügbarkeit dazu, dass etwas alltäglich wird. Hingegen erhalten Dinge mehr Wert, wenn man ab und zu darauf verzichten muss», weiss er. «Zu viel macht alles kaputt», sagt er mit Blick auf unsere Gesellschaft, die ein Wachstum ohne Ende anstrebt. Es ist kein Geheimnis, dass die Massentierhaltung die Verfügbarkeit, den Konsum und die Gewinne der Fleischwirtschaft erhöhen will und das bei billigen Preisen. «Das wird nicht funktionieren, denn die Ressourcen sind nicht unendlich», sind sich Vera Weber und Aram einig. «Wird die Initiative gegen die Massentierhaltung angenommen, wird das Fleisch in vielen Läden tatsächlich teurer», stellt die Präsidentin der Fondation Franz Weber klar. Sie geht davon aus, dass sie im Matte-Lädeli nicht gross ändern, weil hier eh Knospe-Qualität gilt. «An anderen Orten, vor allem bei Discountern, erhält das Fleisch dann endlich den Wert, den es haben sollte», betont sie.

Dass der alltägliche Fleischgenuss damit passé sei, sei eine logische Konsequenz, auch hier sind sich Vera Weber und Aram einig. «Manchmal lässt sich die Zufriedenheit in der Bescheidenheit finden», philosophiert der Krämer, der kürzlich in der Zeitung «Reformiert» porträtiert wurde. Er selbst geht mit gutem Beispiel voran und nutzt zum Beispiel die neuen technischen Hilfsmittel nur so weit, wie sie ihn weiterbringen. Ein Handy braucht es da nicht. Wer mit ihm reden will, kommt in den Laden. Dort hat Aram immer Zeit für ein Gespräch. Auch mit Vera Weber, die mit ihrem Einkauf den unabhängigen Quartierladen unterstützt. «Solche Läden sind eminent wichtig», streicht sie heraus. «Denn dank dem Lädeli behält die Matte ihr lebendiges Zentrum.»

Zufällige Begegnungen zu ermöglichen, ist tatsächlich eines der Ziele, dem sich das Matte-Lädeli verschrieben hat. Inspiration findet Aram dabei unter anderem in der Idee des Kibbuz, wie ihn der Schriftsteller Amos Oz beschrieben hat. Wer das Matte-Lädeli betritt, ist in vielen Fällen mit Aram bekannt, aber untereinander kennt man sich nicht immer. Der Einkauf im Lädeli vereint die Kundinnen und Kunden auf eine ganz neue Weise. Dazu tragen auch die sieben Mitarbeitenden mit ihren individuellen Charakteren und Stärken bei. Ihre und seine Tätigkeit bezeichnet Aram als «währschaft» im eigentlichen Sinn des Wortes, das sich aus «wahr» und «schaffen» zusammensetzt. Die Mitglieder des Teams im Matte-Lädeli dürfen ihre Berufung leben – das macht die Institution im Quartier umso einzigartiger und sozial wertvoller. Studien bewiesen, dass gerade die übersichtlich gestalteten menschlichen Beziehungen das Leben verlängern und bereichern können. «Dazu braucht es keine Studien», findet Aram lächelnd. «Das merkt man doch selbst.»

Aktuell entsprechen solche Erkenntnisse einem Trend, das sei aber nicht immer so gewesen. Bei der Überschwemmung im 2005 habe die Matte wenig Verständnis zum Thema Klimawandel erhalten, erinnert sich Aram, der damals die Aufbauarbeit im Quartier mitgestaltete. Er will sich auch nicht auf Trends verlassen, sondern weiterhin anpacken, mit gutem Beispiel vorangehen und soziale Verantwortung tragen – ganz nach dem Motto «Wir für alle und alle für uns.» Wenn sich durch diese menschliche Wertschätzung Zufriedenheit einstellt, ist das vielleicht eine Lösung, so erzählt er Vera Weber. «Vielleicht ist das die Lösung, um aus dem Kreislauf herauszukommen, wo man immer mehr will und haben muss», hält er den Gedanken fest. Quartierklasse gegen das Diktat der Masse sozusagen. Ein guter Plan. Auch dann, wenn es um Massentierhaltung und massenhaften Fleischkonsum geht – das nehmen wohl viele Kundinnen und Kunden mit, wenn sie mit ihrem Einkaufskorb und einem guten Gefühl die Stufen vom Matte-Lädeli aufs Pflasterstein der Matte hinaufsteigen.

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