Zwischen Sozialarbeit und Akrobatik: Eine Zirkusschule in Kambodscha macht Kindern Mut

2022-08-20 10:02:25 By : Ms. snow xu

Eine Zirkusschule in Kambodscha ist für viele Kinder Zufluchtsort. Gelehrt wird vor allem, was in der gewaltsamen Geschichte des Landes zu kurz kam: Hoffnung

Eine junge Frau federt auf dem abgewetzten Trampolin in die staubige Luft der Trainingshalle. Auf dem Boden liegen Teppiche und Matten, Schlieren auf den Fensterscheiben verschleiern den Blick nach draußen. Sie starrt geradeaus, wenn sie vom Spanntuch federt, ihr Körper spannt sich – sobald sie aber in der Höhe schwebt, lösen sich ihre Gesichtszüge.

Drei junge Männer schauen ihr zu. Ihre Blicke verraten Anerkennung für die junge Frau, die sie Rachana nennen und die mit ihren 25 Jahren etwas älter ist als sie. Rachana holt Luft, springt nochmals, höher und immer höher. Die Haare hat sie locker zusammengeknotet, hin und wieder huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Seit sie elf Jahre alt ist kommt Rachana fast täglich hierher. Vormittags rechnete sie und schrieb Aufsätze. Am Nachmittag übte sie Salto, Seiltanz, Jonglieren, Spagat. Alle Akrobatinnen und Akrobaten aus der Truppe kommen aus Familien von Müllsammlern oder Straßenverkäufern, wuchsen als Waisen auf oder bei der Großmutter, weil ihre Eltern zur Arbeitssuche nach Thailand gingen. Jetzt üben sie täglich ihren Traum in der Künstlerschule „Phare Ponleu Salpak“, was übersetzt „Licht der Künste“ bedeutet.

Dieser Campus der Hoffnung in der drittgrößten kambodschanischen Stadt Battambang an der Grenze zu Thailand gibt mehr als tausend Kindern aus armen Verhältnissen eine Zukunft. Sie lernen hier Malen und Musik, Tanzen und Akrobatik. Und vor allem lernen sie, sich selbst zu vertrauen. Vor der Gründung waren hier Reisfelder, heute drängen sich auf dem zwei Hektar großen Gelände ein halbes Dutzend Gebäude um die zentrale Trainingshalle.

Diese ist in der Mitte geöffnet wie ein Zirkuszelt. An einem Tuch schlängelt sich gerade ein Mädchen empor. Ein paar Kinder schwingen ein Diabolo in die Luft, vor der Halle fahren zwei Jungs Einrad, zwei andere lassen Hula-Hoop-Reifen um die Hüften kreisen. Hin und wieder ertönt Lachen im Stimmengewirr. Wenn die Lehrer Anweisungen geben, lauschen die Kinder und Jugendlichen aufmerksam.

In einem kleinen Pavillon neben der Halle klopfen Musikschülerinnen auf den hölzernen Khmer-Xylophonen vor sich. Hohe, klare Töne erklingen bis hinaus auf den Hof. Auf der anderen Seite blättern in der kleinen Bibliothek Schulkinder in Büchern. Dahinter, im Kindergarten, schlängeln die Jüngsten ihre Hände und Armen in die Höhe wie Pflanzen, die aus dem Boden sprießen. Die Erzieherin schult sie im traditionellen Khmer-Tanz: „Erst seid ihr der Samen, dann wachst ihr und wachst.“ Es ist dieser Samen, den Phare sät, der ganze Familien wachsen lässt, und ihr Vertrauen in die Zukunft.

Regen liegt in der feuchtwarmen Luft, über dem Himmel bauschen sich dunkle Wolken. Im Café vertreiben sich Schülerinnen in Schuluniformen die Pause mit ihrem Smartphone und lachen über Tiktok-Videos. Es ist Mittagszeit. Die Kinder stehen Schlange für das Essen. Die Köchin schöpft aus dem Reistopf, hakt nebenbei auf einer Liste die Namen der Kinder ab. Für viele ist es die einzige Mahlzeit am Tag. Es gibt Omelette und Gemüse, Hühnerfleisch. Auch Töchter der Köchin Som Savoern gingen hier zur Schule, eine ist nun Artistin im Zirkus von Phare nahe der antiken Tempel von Angkor Wat. Es ist das Ziel, dort wollen alle hin.

Vormittags oder nachmittags lernen die Kinder in der Schule, direkt auf dem Gelände. Früher gehörte auch sie zu Phare, mittlerweile ist sie staatlich. Die Verfassung von Kambodscha schreibt zwar eine Schulbildung von neun Jahren vor, allerdings können längst nicht alle Kinder so lange bleiben. Kunst- oder Musikunterricht? Hat in den Lehrplänen keinen Platz. In Dörfern ohne öffentliche Schulen ist es für viele kaum möglich, zum Unterricht zu gelangen. Zwar gehen die meisten Kinder in eine Grundschule, aber nur ein Drittel besucht im Anschluss eine weiterführende Schule. Für Familien, die sich Bücher und Uniformen kaum leisten können oder deren Kinder arbeiten müssen, damit das Geld gerade so zum Überleben reicht, will Phare eine Perspektive schaffen.

Wenn Rachana auf dem Heimweg durch ihr Viertel geht, nur fünf Fußminuten vom Campus entfernt, trifft sie immer wieder auf Kinder, die verloren wirken, Drogen nehmen, „die nicht wissen, was richtig und falsch ist“, sagt Rachana. Am Straßenrand spielen ein paar Mädchen Fangen, in kleinen Bretterbuden rühren Frauen in Töpfen und backen dünne Pfannkuchen. Eltern holen ihre Töchter und Söhne von der Schule ab und drängen sich zu dritt oder viert auf den Motorrollern. Vor einer kleinen Hütte stillt eine junge Frau ihr Baby in der Nachmittagssonne. Das Viertel hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt, auch durch den Einsatz der Sozialarbeitenden von Phare. Sie besuchen die Familien, kümmern sich um herumlungernde Kinder.

Durch meine Auftritte konnte ich meine Familie unterstützen, ein neues Haus für sie bauen und das Studium meiner Schwester finanzieren

Rachana weiß, wie wichtig es ist, dass die Kinder in der Künstlerschule Halt finden. Für sie selbst hat sich durch Phare alles verändert. Akrobatik und Tanz ist für sie ein Weg, ihre Gefühle auszudrücken. „Es ist meine Sprache geworden“, sagt Rachana. „Bin ich traurig und beginne mein Training, bewege mich, dann fühle ich mich wieder stark.“

Zu Hause angekommen streicht Rachanas junges Kätzchen ihr zur Begrüßung um ihre Beine. Sie lässt sich in ihre Hängematte fallen, auch nach vielen Jahren bleibt das Training kräftezehrend. Mit elf Jahren hat sie das Training begonnen, seit ihrem Abschluss vor eineinhalb Jahren ist sie professionelle Zirkusartistin. In der Gruppe der Absolventen ist sie die einzige Frau. In Kambodscha werde es nicht gern gesehen, wenn Frauen sich verbiegen, sportlich oder muskulös sind und auf der Bühne stehen, erzählt Rachana.

Die heutige Reportage aus Kambodscha ist Teil der FR-Serie mit dem Titel „Wie verändert Bildung das Leben?“. Ausgehend von dieser Frage recherchiert die Frankfurter Rundschau in Kooperation mit dem Zeitenspiegel-Reportage-Team ein Jahr in zwölf Ländern der Welt und erzählt von Menschen, denen Bildung ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht hat.

Die Reporter:innen und Fotograf:innen wollen mit ihren Geschichten Einblicke ermöglichen, wie Bildung den persönlichen Aufstieg fördern und auch ein wichtiger Schritt für die Entwicklung ganzer Gesellschaften sein kann. Alle Texte finden Sie hier.

Die Serie ist Teil eines internationalen Projekts, für das insgesamt acht Medien in Deutschland, Frankreich und England ausgewählt wurden. Das European Journalism Center (EJC) und die Bill & Melinda Gates Stiftung fördern die acht Projekte zur Berichterstattung über die Herausforderung globaler Entwicklung mit insgesamt 900 000 Euro. FR

Der Zirkus hat ihre Welt groß gemacht. Sie ist im Ausland aufgetreten – in Deutschland, Frankreich, Myanmar, Korea, Dänemark. „Durch meine Auftritte konnte ich meine Familie unterstützen, ein neues Haus für sie bauen und das Studium meiner Schwester finanzieren.“ Als sie ein Kind war, aufwuchs mit ihren vier Geschwistern, arbeitete ihr Vater als Taxifahrer, hatte ein Motorrad, heute fährt er einen großen Wagen. Ihre Mutter verkaufte Gemüse auf dem Markt. Das Geld war knapp. „Manchmal, wenn ich rumhängen wollte, trieb mich meine Mutter an, sagte: ‚Wir mussten wegrennen vor Bomben, lebten in ständiger Angst. Du musst härter arbeiten. Sei froh, jetzt zu leben.‘“ Heute erkennt Rachana, dass es die Bildung und die Gemeinschaft war, ihre „Zirkusfamilie“, die ihr den Weg wiesen. Sie hatte Menschen, die immer an sie glaubten.

Menschen, wie Khuon Det, der in der Halle gerade neben einer Gruppe von Jungen steht, die im Kreis auf dem Rücken liegen. Khuon Det lässt sich nicht allzu schnell aus der Ruhe bringen. „Schließt die Augen“, sagt er mit ruhiger Stimme. Ein Junge blinzelt verstohlen. „Nein, nicht schummeln“, ermahnt Khuon Det und lächelt dabei. Sich zu entspannen nach dem Training, das sei die wahre Kunst, den Atem fließen zu lassen, in die Stille zu gehen. Gerade für die zappligen Kinder, die im Unterricht in der Schule nie stillsitzen können, wirke das Zirkustraining beruhigend, sagt Khuon Det später.

Battambang ist die Heimatstadt des Direktors der Zirkusschule und gilt als „Reisschüssel“ des Landes – und als Wiege der Kunst und Kultur. Khuon Det wurde 1972 hier geboren, als in Kambodscha Bürgerkrieg herrschte. „Ich bin ein Waisenkind“, sagt er. Weil er sich nie geliebt fühlte, oft vernachlässigt, weiß er, wie wichtig es ist, für Kinder da zu sein. „Anders als in meiner Kindheit möchte ich, dass Kinder eine Chance bekommen.“

Khuon Det floh mit seinem Großvater. Unter den Roten Khmer wurden auch Kinder zu Soldaten. Selbst wenn die Eltern noch am Leben waren, kamen sie in Waisenhäuser, die vom Militär kontrolliert wurden.

Wie Tausende andere zog der siebenjährige Det allein von einem Flüchtlingslager zum anderen, bis er fast zwei Jahre später im Site Two Camp bei Aranyaprathet in Thailand nahe der östlichen Grenze zu Kambodscha ankam, dem damals größten Lager der Welt mit über 200 000 Flüchtlingen. Die nächsten zehn Jahren lang prägten Hunger, Elend und Einsamkeit sein Leben. „Das Lager, Site Two, war ein Gefängnis ohne Mauern. Als ich später einmal zurückkehrte, sah ich die verbliebenen Spuren und erkannte, wie klein meine Welt war.“

Alles, was das Land ausmachte – die Kultur, die Wirtschaft – wurden im Krieg und während der Schreckensherrschaft der Roten Khmer zerstört. Reihten sich in der Altstadt von Battambang einst Theater und Ateliers zwischen französischen Villen aus der Kolonialzeit aneinander, lag das künstlerische Leben im Land nun brach. Bildung galt als Bedrohung, das Ziel der Roten Khmer war das Errichten eines Bauernstaats. Gelehrte, Intellektuelle und viele Kunstschaffende wurden getötet. Neunzig Prozent der Lehrerinnen und Lehrer verloren ihr Leben. Bereits eine Brille konnte den Träger auf eine Todesliste bringen. Unzählige Menschen starben durch Folter, Zwangsarbeit, dem Unterlassen von medizinischer Hilfe. Dem Völkermord fielen zwei Millionen Menschen zum Opfer. Die Menschen schufteten, hungerten bei dünner Reissuppe. Familien wurden auseinandergerissen, aus den Städten vertrieben und in Arbeitscamps gesammelt.

Khuon Det war gerade sieben Jahre alt, als vietnamesische Truppen 1979 einmarschierten, um die Regierung der Roten Khmer abzusetzen. Der Guerillakrieg hielt die nächsten Jahre an. Hinterlassen wurde eine traumatisierte Generation, die sich selbst und ihr Land in Trümmern wiederfand. Nach vielen Jahren Kommunismus und Korruption ist Kambodscha heute eines der ärmsten Länder Asiens und leidet noch immer an den Folgen dieser gewaltsamen Vergangenheit.

Khuon Det konnte als Kind nicht zur Schule gehen. Stattdessen bildete ihn das Militär aus, drillte ihn in Kampfkunst. „Ich war stark, lernte mich selbst zu verteidigen.“ Er sollte Soldat werden, wie sein Großvater. Doch als er 14 Jahre alt war, änderte sich sein Leben im Lager. Es kamen fahrende Händler, die traditionelle Heilpflanzen und Kräuter verkauften, sogar umherziehende Magier, die Affen an Ketten mit sich führten und Zaubertricks aufführten. Auch aus Frankreich kamen Reisende, die an die heilsame Kraft der Kunst glaubten und den Kindern helfen wollten. In Bambushütten saßen sie und malten mit Buntstiften das Leben im Lager und ihre Träume – zeichneten gegen ihr Trauma an. Sie nannten es damals nicht so, auch Khuon Det nicht, doch es war Kunsttherapie, die ihm half, mit all den Schrecken umzugehen. Er absolvierte eine Ausbildung an der Nationalen Zirkusschule der Königlichen Universität der Schönen Künste in Phnom Penh und wollte seine Erfahrung auch anderen Kindern mitgeben.

Wir wollen, dass sie hier sicher sind, sich geborgen fühlen und entfalten können.

Als er nach dem Zerfall der Roten Khmer zurückkehrte in seine Heimatstadt, gründete er Phare Ponleu Selpak, zusammen mit acht weiteren Freunden, die mit ihm in Kunst unterrichtet wurden. In der armen ländlichen Gegend siedelten sich viele obdachlose Familien nach ihrer Rückkehr aus den Flüchtlingslagern an, lebten anfangs oft in Zelten.

Dem Grauen der Vergangenheit wollten Khuon Det und seine Mitstreiter mit dem Zauber der Khmer-Kultur begegnen: Sie fingen mit einer Zeichenschule an und mit den Jahren kam die Musik hinzu, traditioneller Tanz, die Akrobatik. Heute gibt es zudem ein modernes Studio für Animationsfilme und Grafikdesign.

Er wollte eine Show für die Opfer der Roten Khmer machen, „damit sie sich der Angst stellen und nicht an Rache denken, sondern Frieden im Geist und Herzen finden.“ Jedes Stück, das die jungen Artistinnen und Artisten heute aufführen, erzählt eine Geschichte: von einem Mädchen, das die Ermordung seiner Familie durch die Roten Khmer miterlebt und schließlich durch die Kunst neuen Lebenswillen findet, vom Schweigen der älteren Generation über die Gräuel der Vergangenheit, vom Geisterglauben bis zur Diskriminierung verstümmelter Minenopfer.

In den 80er-Jahren wurden die Gräuel des Pol-Pot-Regimes noch in den Schulen gelehrt, heute nicht mehr. Eine öffentliche Aufarbeitung der Vergangenheit, der Diktatur, die ein Fünftel der Gesamtbevölkerung das Leben kostete, gab es kaum. Nie wurden Überlebende und Hinterbliebene entschädigt, Mörder und Opferfamilien leben Tür an Tür in den ländlichen Provinzen. In den meisten Familien herrscht Schweigen, sagt Khuon Det.

Der Lehrer weiß, was es bedeutet, eine unglückliche Kindheit zu haben. Sein Trauma, sagt er, begleitete ihn lange. Darum will er, dass die Kinder, die heute von ihm lernen, es gern tun. „Sie sollen spielen, glücklich sein, nur dann kommen sie täglich zu uns“, sagt er. Es geht in der Zirkusschule nicht darum, die Kinder unter Druck zu setzen und zu Höchstleistungen anzuspornen. „Wir wollen, dass sie hier sicher sind, sich geborgen fühlen und entfalten können.“ Jedes Kind darf entdecken, wo es seine Stärken hat.

Kinder wie der kleine Jilin kommen nun jeden Tag. Der Neunjährige ist seit einem Unfall vor sechs Jahren sehbehindert, er fiel aus einem Tuk-tuk, einer Autorikschka, hat Probleme mit seiner Koordination. Etwas unbeholfen steht er da in seinem Fußballtrikot, die Augen starr auf sein Diabolo gerichtet, mit dem er zu jonglieren versucht. Khuon Det beugt sich über ihn, hält seine Hände, zeigt ihm, wie er es schwenken und wieder auffangen kann.

„Wir ermutigen ihn, herzukommen. Er braucht besondere Zuwendung, viel Zeit“, sagt Det. Der Vater sitzt im Rollstuhl, sammelt Plastikflaschen, wie auch der kleine Jilin in seinem Rad-Anhänger, wenn er nach Hause fährt. „Wir versuchen unser Bestes, um ihm zu helfen und auch die Familie mit Geld für Essen zu unterstützen“, sagt Det. Sozialarbeiter besuchen regelmäßig die Eltern der Kinder, kümmern sich darum, dass die Schülerinnen und Schüler gut versorgt sind. Sie klären über Hygiene auf, vermitteln, wie wichtig es ist, dass die Kinder regelmäßig zum Unterricht kommen.

Die Corona-Pandemie hat viele Träume zerplatzen lassen. Die meisten der Artistinnen und Artisten suchten sich Jobs, um das fehlende Honorar auszugleichen. Auch Rachana begann, auf dem Markt Getränke zu verkaufen. Der Zirkus war monatelang geschlossen, das Einkommen zusammengeschmolzen. Sie werden für jede Show bezahlt, je nach Größe des Publikums sind es mal 30 Dollar, mal 60 an einem Abend. In einem guten Monat verdienen die Mitglieder des Ensembles etwa 200 Dollar und mehr. Eine beachtliche Summe in Kambodscha, wo das durchschnittlichen Monatseinkommen 100 Dollar beträgt. Vierzig Prozent der Einnahmen gehen an Phare Ponleu Selpak. Rund eine Million Dollar jährlich kostet das Programm. Immer wieder ziehen die Truppe los und sammelt Spenden: so wie bei einer Tour in die Hauptstadt Kambodschas.

Ein Nachmittag in Pnohm Penh, sechseinhalb Stunden Fahrt entfernt von der Zirkusschule. Im Innenhof des Französischen Instituts versammeln sich mehrere hundert Menschen vor der Bühne auf Plastikstühlen. In einem Zelt hinter Plastikplanen schminkt sich Rachana, zieht die Augenbrauen schwarz nach. Ihr Blick ist konzentriert, sie schweigt, während um sie herum die Jungs lachen und laut herumalbern. Es ist der erste Auftritt nach einer wochenlangen Pause. Lampenfieber kennt Rachana nicht mehr. „Aber mich macht es jedes Mal glücklich mitzuerleben, wie das Publikum mitfiebert, die Aufregung zu spüren.“

Wenige Minuten später tanzt Rachana mit ihren sechs Akrobaten über die Bühne, sie gleiten in geschmeidigen, fließenden Bewegungen. Sie jonglieren, gehen auf Stelzen, wechseln die Kostüme so schnell wie ihre Rollen: von Gejagten und Ausgestoßenen zu Herrschenden und Unterdrückern. Von Mächtigen zu Schwachen. Rachana ist die Umkämpfte, die Gefeierte, mal liegt sie am Boden, wird getreten, gedemütigt, dann erobert, in die Höhen gehoben, in den Himmel. Rachana springt in die Luft, landet auf den Schultern ihres Kollegen, steht aufrecht, die Arme wie Flügel ausgebreitet. Die Charaktere im Stück „Influence“ streben nach dem Triumph, dominieren und werden dominiert, aber letztlich entdecken sie ihre Stärke und finden ihren Platz in der Welt.

So wie Rachana ihn gefunden hat. Sie liebt es, auf der Bühne zu stehen. Am meisten aber liebt sie es, wenn sie fliegt. Ihre Teamkollegen werfen sie in die Luft. Für einen Moment schwebt sie. Ihre Augen strahlen. Dann wird sie wieder aufgefangen und gehalten, findet ihren festen Stand. „Ich habe gelernt, zu vertrauen. Das ist es, was zählt.“